Eine Uhr für den Kaiser

Hintergrundfoto von mir, Coverbild © S. Fischer

Gerade machen wir alle wieder die Erfahrung, wie sehr das Zeitempfinden doch geprägt ist von der jeweiligen Situation. Während der relativ sorglose Sommer quasi im Nu vorbeigesaust ist, dehnen sich die Tage nun teilweise ins Unendliche. Man wartet auf den Beginn von Pressekonferenzen, auf Testergebnisse oder darauf, dass diese verflixte Quarantäne endlich vorbei ist. Oder man verbringt einfach nur ungewohnt viel Zeit zu Hause und weiß doch nichts Sinnvolles mit sich anzufangen. Zumindest für die beiden letzten Varianten lohnt sich — wie immer — der Griff zum Buch.

„Cox oder Der Lauf der Zeit“ von Christoph Ransmayr ist momentan eine besonders gute Wahl, beschäftigt sich der im Herbst 2016 erschienene und von der Kritik gefeierte Roman doch im Kern genau mit der hochaktuellen Frage, wie wir das Vergehen der Zeit in verschiedenen Lebenslagen wahrnehmen. Auf der anderen Seite ist das Buch zeitlich und örtlich weit genug weg vom Jetzt, um uns nicht andauernd an die gegenwärtige Misere zu erinnern.

Beim titelgebenden Helden handelt es sich um den Briten Alister Cox, einen Uhren- und Automatenbauer von Weltruf (lose angelehnt ist die Figur an den „echten“ Uhrmacher James Cox, der allerdings nie in China war). Cox‘ Geschäfte laufen wie geschmiert, aber ansonsten ist der Protagonist seit dem Tod der geliebten Tochter und dem Verstummen der Ehefrau ein gebrochener Mann. Womöglich auch, um seinem Leid davonzulaufen, nimmt er eine Einladung aus weiter Ferne an und begibt sich mit einigen seiner engsten Angestellten an den Hof des chinesischen Kaisers Qiánlóng (der tatsächlich existierte und dem ein gewisses Faible für Uhren aller Art nachgesagt wird). Allein die Reise zur Verbotenen Stadt ist Mitte des 18. Jahrhunderts ebenso abenteuerlich wie strapaziös und der wie eine Gottheit verehrte Kaiser gilt als äußerst anspruchsvoll und — für den Fall, dass etwas nicht nach seinem Gusto funktioniert — einfallsreich, was das Erfinden grausamer Hinrichtungsmethoden angeht. Dummerweise ist der Auftrag, den Qiánlóng an Cox heranträgt, geradezu prädestiniert dafür, schiefzugehen. Der Kaiser wünscht sich nämlich eine Reihe prachtvoller Uhren, die das Zeitempfinden in verschiedensten Lebenslagen präzise widerspiegeln können.

Der Kaiser wollte, daß ihm Cox für die fliegenden, kriechenden oder erstarrten Zeiten eines menschlichen Lebens Uhren baute, Maschinen, die gemäß dem Zeitempfinden eines Liebenden, eines Kindes, eines Verurteilten und anderer, an den Abgründen oder in den Käfigen ihrer Existenz gefangenen oder über den Wolken ihres Glücks schwebenden Menschen den Stunden- oder Tageskreis anzeigen sollten — das wechselnde Tempo der Zeit.

Christoph Ransmayr: Cox oder Der Lauf der Zeit

Später stellt der Kaiser Cox und seinen Gefährten sogar eine noch kniffligere Aufgabe. Worin diese besteht, soll hier aus Gründen des Spannungserhalts natürlich nicht verraten werden. Spannung ist ohnehin ein recht rares Gut im eher leisen und philosophischen „Cox oder Der Lauf der Zeit“ — zumindest gemessen an anderen historischen Abenteuerromanen. Es gibt einige packende Szenen wie eine Reise zur Chinesischen Mauer, auf der Cox und seine Begleiter in einen Hinterhalt geraten, oder den in prächtigen Farben und sehr detailliert geschilderten Aufbruch des kaiserlichen Hofstaates in die Sommerresidenz, aber ansonsten spielt sich die Handlung zu nicht unerheblichen Teilen in der Werkstatt und in Cox‘ Gedanken ab. Man lernt viel über Feinmechanik und staunt über die Präzision und Filigranität des Uhrmacherhandwerks, aber zuweilen dehnt sich die Zeit beim Lesen dieses sprachlich und stilistisch einwandfreien Romans (nichts anderes ist von Christoph Ransmayr zu erwarten) doch sehr. Aber vielleicht ist das ja angesichts des Themas dieses Buches auch nur ein weiterer genialer Kunstgriff.

Für meinen Geschmack jedenfalls hat sich Martin Suter in seinem ungemein mitreißenden Roman „Die Zeit, die Zeit“ deutlich ansprechender mit dem Wesen der Zeit befasst.