Vor einer Weile habe ich hier Peter Süß‘ Rückschau auf das Jahr 1923 vorgestellt – ein Schicksalsjahr mit wirtschaftlichen und politischen Verwerfungen, aber auch mit den ersten Vorboten der „goldenen“ Zwanziger. Zumindest bestand am Ende des Jahres die Möglichkeit, dass sich womöglich doch alles zum Guten wendet und eine halbwegs freundliche Zukunft bevorsteht.
Zwanzig Jahre später allerdings hat sich diese Hoffnung längst in Rauch aufgelöst und selbst die schlimmsten Zukunftsvisionen der größten Schwarzseher werden von 1943 noch übertroffen. Der Krieg tobt immer unerbittlicher an allen Fronten, doch auch nach der verheerenden Niederlage von Stalingrad und im Angesicht zunehmender Luftangriffe der Alliierten auf deutsche Städte phantasiert die NS-Führung weiterhin vom „Endsieg“. Trotz der nach außen hin zur Schau gestellten Geschlossenheit kriselt es aber auch innerhalb des innersten Machtzirkels. Während sich Adolf Hitler in der Öffentlichkeit zunehmend rar macht und Hermann Göring in eine Wahnwelt voll Prunk und selbst entworfener Uniformen abtaucht, nutzt Joseph Goebbels nicht zuletzt mit seiner „Sportpalast-Rede“, während der er den „totalen Krieg“ ausruft, die Gunst der Stunde und inszeniert sich als der neue starke Mann im Staat.
Die Ereignisse des Jahres 1943 bereitet Oliver Hilmes in „Schattenzeit“ zum einen ähnlich auf wie die Verfasser*innen anderer Jahrbücher, wobei er weniger auf kurze Informationshäppchen setzt, sondern stärker auswählt und den einzelnen Abschnitten mehr Platz einräumt, was durchaus eine kluge Idee ist. Zum anderen – und das hebt „Schattenzeit“ deutlich von anderen Werken dieses Genres ab – widmet er sich über weite Strecken des Buches als exemplarisches Beispiel der nationalsozialistischen Grausamkeit und Willkür dem tragischen Fall des jungen Karlrobert Kreiten. Kreiten, Sohn einer bildungsbürgerlichen, weltoffenen Familie mit deutscher und niederländischer Staatsbürgerschaft, ist im Jahr 1943 Mitte Zwanzig und als Pianist auf dem Weg zu Weltruhm. Vor einer Konzertreise nach Heidelberg im Frühjahr äußert er sich gegenüber einer Bekannten der Familie kritisch über den Geisteszustand Hitlers und prognostiziert den baldigen Zusammenbruch des „Dritten Reichs“. Im Hotel in Heidelberg wird er schließlich verhaftet und nach Berlin zurückgebracht, wo er zwischen Mai und September in verschiedenen Gefängnissen inhaftiert ist. Ist diese quälend lange Haftzeit zunächst geprägt von Unsicherheit und manchmal ganz leiser Hoffnung, geht plötzlich alles rasend schnell. Ein Gericht unter dem Vorsitz des berüchtigten Roland Freisler, der im Februar des Jahres unter anderem die Geschwister Scholl und Christoph Probst zum Tode verurteilt hatte, spricht auch gegen Karlrobert Kreiten wegen „Wehrkraftzersetzung“ die Höchststrafe aus, die aus Sorge vor drohenden Luftangriffen der Alliierten in großer Eile vollstreckt wird. Kreitens Anwälte und seine Familie erfahren von all dem erst nach der Vollstreckung des Urteils. Unklar an diesem erschütternden, kafkesken Fall (nicht umsonst ist dem Buch ein Zitat aus „Der Prozess“ vorangestellt) ist bis heute, wer Karlrobert Kreiten damals eigentlich angezeigt hat. Gegen mehrere Verdächtige wird nach Kriegsende zwar ermittelt, aber letzten Endes wird der Fall ohne Ergebnis eingestellt, womit der gewaltsame, viel zu frühe Tod des jungen Pianisten ungesühnt bleibt.
„Schattenzeit“ ist ein packend geschriebenes, aufwühlendes und sehr berührendes Buch, das einmal mehr bekräftigt: „Nie wieder!“
- Oliver Hilmes: Schattenzeit. Deutschland 1943: Alltag und Abgründe; Siedler Verlag; 304 Seiten; ISBN: 978-3-8275-0159-2.
Vielen Dank an den Verlag für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars!
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