Hugo Hamilton: Echos der Vergangenheit

Als passionierte Leserinnen und Leser haben wir uns alle insgeheim schon einmal gefragt, was in öffentlichen Büchereien passiert, wenn die Tore nach einem ereignisreichen Tag geschlossen und die Bücher wieder unter sich sind. Nun, in Hugo Hamiltons »Echos der Vergangenheit« finden wir eine Antwort:

Wir plaudern nachts in den Bibliotheken. Sie glauben sicherlich, öffentliche Büchereien wären stille Orte, aber Sie sollten die Debatten hören, die bis Tagesanbruch in den Regalen geführt werden, das Getöse, die schiere Lautstärke, mit der Meinungen ausgetauscht werden. Alle reden durcheinander […], bis der Bibliothekar morgens zurückkehrt. Dann tritt wieder Stille ein.

Das Buch, das hier aus dem Nähkästchen plaudert und das uns als Erzähler durch den ganzen Roman begleitet, ist eine Erstausgabe von Joseph Roths »Die Rebellion«. Im Jahr 1924 veröffentlicht und deshalb immer etwas neidisch auf Thomas Manns »Zauberberg« (das literarische Ereignis des Jahres), kann das Buch auf eine wechselvolle Geschichte zurückblicken, die eng mit der seiner Besitzer und Besitzerinnen verknüpft ist. Neu erworben wurde der Roman einst von David Glückstein, einem jüdischen Germanistikprofessor in Berlin, der ihn am Tag der Bücherverbrennung auf dem Opernplatz einem seiner Studenten zusteckte und ihn so vor den Flammen rettete. In der Familie des später in die USA ausgewanderten Studenten wurde er weitergegeben und landete schließlich bei dessen Enkelin Lena Knecht, die sich zu Beginn von »Echos der Vergangenheit« von New York nach Berlin aufmacht, um herauszufinden, welches Geheimnis die von Glückstein gezeichnete Karte auf der letzten Seite der »Rebellion« birgt. Ungünstig nur, dass Lena gleich nach der Ankunft in Berlin die Tasche mitsamt dem wertvollen Buch gestohlen wird, was eine Reihe von folgenschweren Ereignissen und Begegnungen zur Folge hat.

Trotz des recht überschaubaren Umfangs von knapp 280 Seiten steckt eine ganze Menge in Hugo Hamiltons klug konstruiertem Roman. Allerdings überzeugen nicht alle Handlungsstränge gleichermaßen. Stark sind die Passagen, in denen es um historische Tatsachen, Biographisches aus dem Leben von Joseph Roth und seiner Frau Friederike sowie um die Kraft der Literatur und den Zauber von Büchern geht. Dagegen fällt der in der Gegenwart spielende Teil der Handlung ein wenig ab – zwar gelingt es Hamilton geschickt, zentrale Motive aus der »Rebellion« und Roths Leben aufs Heute zu übertragen, aber dennoch wirkt die Geschichte an diesen Stellen oft etwas überladen und bedeutungsschwer. Nicht nur inhaltlich, sondern (womöglich liegt es an der Übersetzung) auch sprachlich: leere Bierflaschen sind da zum Beispiel »ausgetrunkene Spaßbringer«, ein Akkordeon wird zur »Rhythmusmaschine«. Auch das Ende des Romans ist recht dick aufgetragen und weiß nicht ganz zu überzeugen, wobei immerhin das Geheimnis der Karte gelüftet wird.

Ein lesenswertes Buch ist »Echos der Vergangenheit« trotz einiger Schwächen allemal – vor allem, weil es Hugo Hamilton, dem irischen Autor mit deutschen Wurzeln, gelingt, einem das Werk Joseph Roths näherzubringen. Nach der Lektüre hat man jedenfalls große Lust, zur »Rebellion« zu greifen.

  • Hugo Hamilton: Echos der Vergangenheit; aus dem Englischen von Henning Ahrens; Luchterhand; 288 Seiten; ISBN: 978-3-630-87681-8
  • Lesungen: 31. Mai – Literaturbüro Lüneburg; 6. Juni – Literaturhaus Hannover.

Vielen Dank an den Verlag für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars!

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Alex Johnson: Schreibwelten

Dieser Blogbeitrag wurde in meinem Arbeitszimmer im zweiten Stock geschrieben. An einem kleinen Schreibtisch aus dunklem Holz – ein Erbstück, das einst in der Wohnung meiner Großeltern stand. Auf dem Schreibtisch finden sich ein Laptop, eine Lampe, ein Kalender, Stifte und Notizzettel sowie ein paar persönliche Erinnerungsstücke. Warum ich das hier erwähne? Nun, weil es in Alex Johnsons Buch „Schreibwelten“ genau darum geht. Um Umgebungen, in denen Texte entstehen. Natürlich nicht, wie bei mir, um einen Blogbeitrag, den bestenfalls ein paar Dutzend Personen lesen, sondern um Weltliteratur oder zumindest für eine Weile populäre Bestseller.

In kurzen Porträts nimmt uns der Engländer mit in die Arbeitszimmer und an die Schreibtische 50 berühmter Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus verschiedenen Jahrhunderten (der Älteste ist Michel de Montaigne, die Jüngste die 1975 geborene Zadie Smith) und vorwiegend dem angloamerikanischen Sprachraum. Dabei geht es nicht nur um die jeweiligen Räumlichkeiten und deren Möblierung, sondern auch um Gewohnheiten und Marotten der Porträtierten. Der Wahl des passenden Schreibgeräts wird dabei viel Platz eingeräumt (man erfährt in „Schreibwelten“ viel über Tinte, Bleistifte und verschiedene Schreibmaschinenmodelle), ebenso wie Exkursen zu Kaffeegenuss (Honoré de Balzac half seiner Kreativität angeblich mit bis zu 50 Tassen pro Tag auf die Sprünge) und Kaffeehäusern als beliebter Alternative zur heimischen Schreibstube.

Dass es kein Patentrezept für die Einrichtung der idealen Schreibumgebung gibt, wird beim Blättern in Alex Johnsons Buch schnell klar. Während sich Vita Sackville-West zum Schreiben in ihr Bibliothekstürmchen in Sissinghurst Castle zurückzog, ließ sich D. H. Lawrence am liebsten im Freien unter einem Baum nieder. Die  Brontë-Schwestern nutzten ihr gemeinsames Wohn- und Esszimmer als Vorläufer des modernen „writers‘ room“, Arthur Conan Doyle schwor auf seinen mobilen Schreibtisch (ein eigens angefertigter ausklappbarer Schrankkoffer mit integriertem Bücherregal) und Roald Dahl schrieb vorwiegend in einem von Krimskrams und Familienfotos umgebenen Ohrensessel. Erstaunlich oft entstand große Literatur allerdings in Gartenhäuschen oder -schuppen – ganz im Sinne von Virginia Woolf, an deren berühmten Essay „Ein Zimmer für sich allein“ der Originaltitel von „Schreibwelten“ („Rooms of Their Own. Where Great Writers Write“) angelehnt ist.  

Ganz großartig gelungen sind an „Schreibwelten“ vor allem die schönen, detailverliebten Illustrationen von James Oses, die knapp die Hälfte der 192 Seiten des Buches füllen – jede einzelne davon ein echter Augenschmaus. Die Texte können da nicht immer ganz mithalten. Während einige äußerst aufschlussreich und vergnüglich geraten sind, sind andere etwas karg. Fast so, als hätte man die betreffende Autorin bzw. den betreffenden Autor vor allem des bekannten Namens wegen unbedingt mit im Buch haben wollen. Sehr hilfreich sind dagegen die Hinweise, welche der vorgestellten Orte heute für Besucherinnen und Besucher geöffnet sind – ideales Ausgangsmaterial für literarische Reisen.

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Jan Haft: Wildnis

Flächenfraß, industrielle Landwirtschaft und die zunehmenden Auswirkungen des Klimawandels – dass unsere moderne Kulturlandschaft immer weniger Arten gute Lebensbedingungen bietet, ist kein Geheimnis. Längst hat das Artensterben solch besorgniserregende Ausmaße erreicht, dass kaum noch Zeit zum Handeln bleibt. Aber wie könnte so ein Handeln im Sinne der Natur überhaupt aussehen? In der Regel verbindet man mit „unberührter Natur“ große Wälder, die weitgehend unberührt von Menschenhand vor sich hinwachsen dürfen – so zum Beispiel in Nationalparks.

Das Problem, das der Biologe, Autor und Naturfilmer Jan Haft gleich zu Beginn seines neuen Essays „Wildnis. Unser Traum von unberührter Natur“ herausstellt, ist aber, dass diese „Urwälder“ keineswegs einen echten Naturzustand darstellen. Tatsächlich ist die Artenvielfalt in dichten Wäldern mit hohen Bäumen und dementsprechend wenig Licht am Boden deutlich geringer als in vielen von Menschen geschaffenen Gebieten wie etwa Parks, Friedhöfen oder Kiesgruben. Außerdem war Europa einst keineswegs ausschließlich von undurchdringlichen Wäldern überzogen. So hielten zum Beispiel im Pleistozän Herden von umherwandernden große Pflanzenfressern weite Teile der Landschaft offen und sorgten damit für ideale Lebensbedingungen für eine große Anzahl an Tieren und Pflanzen. Auch garantierte bis vor gar nicht allzu langer Zeit der Umstand, dass viele Nutztiere auf ganzjährig beweideten Flächen gehalten wurden, eine vielfältige Tier- und Pflanzenwelt. Dummerweise sind die wildlebenden großen Pflanzenfresser entweder ganz ausgestorben oder zumindest stark dezimiert, während ein Großteil der Nutztiere seit ein paar Jahrzehnten in Ställen „verschwunden“ ist.

Als Ausweg aus diesem Dilemma plädiert Jan Haft in seinem Essay für die Schaffung „Wilder Weiden“, also halboffener Landschaften, die möglichst ganzjährig beweidet werden. Mit einer beträchtlichen, aber dennoch nicht zu großen Zahl an Pferden und vor allem Rindern. Die positiven Effekte, die eine solche Maßnahme mit sich brächte, erläutert der Autor anhand vieler anschaulicher Beispiele; außerdem widerlegt er den gerne vorgebrachten Irrglauben vom „klimaschädlichen“ Rind.

„Wildnis“ ist ein interessanter, kluger und wichtiger Debattenbeitrag, den auch Nicht-Fachleute gut nachvollziehen können. Theoretischer als die wunderbar farbenfrohen, lebhaften anderen Bücher von Jan Haft (wie etwa „Heimat Natur“) ist dieser Essay aber natürlich dennoch.

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Oliver Hilmes: Schattenzeit

Vor einer Weile habe ich hier Peter Süß‘ Rückschau auf das Jahr 1923 vorgestellt – ein Schicksalsjahr mit wirtschaftlichen und politischen Verwerfungen, aber auch mit den ersten Vorboten der „goldenen“ Zwanziger. Zumindest bestand am Ende des Jahres die Möglichkeit, dass sich womöglich doch alles zum Guten wendet und eine halbwegs freundliche Zukunft bevorsteht.

Zwanzig Jahre später allerdings hat sich diese Hoffnung längst in Rauch aufgelöst und selbst die schlimmsten Zukunftsvisionen der größten Schwarzseher werden von 1943 noch übertroffen. Der Krieg tobt immer unerbittlicher an allen Fronten, doch auch nach der verheerenden Niederlage von Stalingrad und im Angesicht zunehmender Luftangriffe der Alliierten auf deutsche Städte phantasiert die NS-Führung weiterhin vom „Endsieg“. Trotz der nach außen hin zur Schau gestellten Geschlossenheit kriselt es aber auch innerhalb des innersten Machtzirkels. Während sich Adolf Hitler in der Öffentlichkeit zunehmend rar macht und Hermann Göring in eine Wahnwelt voll Prunk und selbst entworfener Uniformen abtaucht, nutzt Joseph Goebbels nicht zuletzt mit seiner „Sportpalast-Rede“, während der er den „totalen Krieg“ ausruft, die Gunst der Stunde und inszeniert sich als der neue starke Mann im Staat.

Die Ereignisse des Jahres 1943 bereitet Oliver Hilmes in „Schattenzeit“ zum einen ähnlich auf wie die Verfasser*innen anderer Jahrbücher, wobei er weniger auf kurze Informationshäppchen setzt, sondern stärker auswählt und den einzelnen Abschnitten mehr Platz einräumt, was durchaus eine kluge Idee ist. Zum anderen – und das hebt „Schattenzeit“ deutlich von anderen Werken dieses Genres ab – widmet er sich über weite Strecken des Buches als exemplarisches Beispiel der nationalsozialistischen Grausamkeit und Willkür dem tragischen Fall des jungen Karlrobert Kreiten. Kreiten, Sohn einer bildungsbürgerlichen, weltoffenen Familie mit deutscher und niederländischer Staatsbürgerschaft, ist im Jahr 1943 Mitte Zwanzig und als Pianist auf dem Weg zu Weltruhm. Vor einer Konzertreise nach Heidelberg im Frühjahr äußert er sich gegenüber einer Bekannten der Familie kritisch über den Geisteszustand Hitlers und prognostiziert den baldigen Zusammenbruch des „Dritten Reichs“. Im Hotel in Heidelberg wird er schließlich verhaftet und nach Berlin zurückgebracht, wo er zwischen Mai und September in verschiedenen Gefängnissen inhaftiert ist. Ist diese quälend lange Haftzeit zunächst geprägt von Unsicherheit und manchmal ganz leiser Hoffnung, geht plötzlich alles rasend schnell. Ein Gericht unter dem Vorsitz des berüchtigten Roland Freisler, der im Februar des Jahres unter anderem die Geschwister Scholl und Christoph Probst zum Tode verurteilt hatte, spricht auch gegen Karlrobert Kreiten wegen „Wehrkraftzersetzung“ die Höchststrafe aus, die aus Sorge vor drohenden Luftangriffen der Alliierten in großer Eile vollstreckt wird. Kreitens Anwälte und seine Familie erfahren von all dem erst nach der Vollstreckung des Urteils. Unklar an diesem erschütternden, kafkesken Fall (nicht umsonst ist dem Buch ein Zitat aus „Der Prozess“ vorangestellt) ist bis heute, wer Karlrobert Kreiten damals eigentlich angezeigt hat. Gegen mehrere Verdächtige wird nach Kriegsende zwar ermittelt, aber letzten Endes wird der Fall ohne Ergebnis eingestellt, womit der gewaltsame, viel zu frühe Tod des jungen Pianisten ungesühnt bleibt.

„Schattenzeit“ ist ein packend geschriebenes, aufwühlendes und sehr berührendes Buch, das einmal mehr bekräftigt: „Nie wieder!“

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Claire Keegan: Das dritte Licht

Die irische Autorin Claire Keegan eilt gerade von Erfolg zu Erfolg. Ihre Bücher – zuletzt „Kleine Dinge wie diese“, das es unter anderem auf die Shortlist des Booker Prize schaffte – werden mit Preisen überhäuft und nun wurde auch noch „An Caílin Ciúin (The Quiet Girl)“ als erster irischsprachiger Film für einen Oscar nominiert.

Der Film basiert auf Claire Keegans 2010 erstmals veröffentlichter Erzählung „Das dritte Licht“, die jetzt in einer leicht überarbeiteten Übersetzung von Hans-Christian Oeser in einer wunderbaren, wertigen Neuausgabe erschienen ist. Wie nahezu das gesamte Werk der 1968 geborenen Autorin kommt auch diese Geschichte mit einem geringen Umfang und wenigen Worten aus – nicht etwa, weil es nicht mehr zu erzählen gäbe, sondern weil Keegans Sprache so präzise ist, dass ihr knapp 100 Seiten für das ausreichen, was andere auf mindestens doppelt so vielen Seiten nicht halb so gut hinbekommen.

Die Handlung von „Das dritte Licht“ setzt an einem Sommermorgen Anfang der 1980er Jahre ein. Die namenlose, neunjährige (zumindest ist das Mädchen im Film so alt, im Buch fehlt eine genaue Altersangabe) Ich-Erzählerin, wird von ihrem Vater in die Grafschaft Wexford zu entfernten Verwandten gebracht, wo sie die nächsten Monate verbringen soll. Dabei handelt es sich weniger um einen Ferienaufenthalt als um eine Sparmaßnahme. In seiner bitterarmen, stetig wachsenden eigenen Familie wäre das Mädchen nur ein weiterer Esser.

Auf der Farm der Pflegeeltern lernt die Ich-Erzählerin Dinge kennen, die zu Hause nicht oder nur sehr begrenzt vorhanden sind. Es gibt bei den Kinsellas Schaumbäder, saubere Kleider, immer genug zu essen, Bücher und vor allem liebevolle Zuwendung. Alles Sachen, die ihr zunächst die Sprache verschlagen:

Mir fallen einfach keine Wörter ein, aber das hier ist ein neuer Ort und ich brauche neue Wörter.

Trotz aller Annehmlichkeiten gibt es aber auch ein paar dunkle Seiten. Zum einen tragen die angeblich kinderlosen Kinsellas ein trauriges Geheimnis mit sich herum, von dem unter anderem der Schrank voller Jungenkleidung und die fröhliche Kindertapete im Gästezimmer stumme Zeugen sind. Zum anderen naht mit jedem Sommertag, der vergeht, der gefürchtete Zeitpunkt, an dem das Mädchen wieder zurück zu seiner Familie muss.

„Das dritte Licht“ ist eine großartige Erzählung voller Zuversicht und Zärtlichkeit, aber auch voller Trauer, großer Armut und einer ungewissen Zukunft. Wie es Claire Keegan gelingt, auf nur wenigen Seiten Charaktere zu entwerfen, mit denen man mitfühlt, ist schlichtweg meisterhaft. Das Büchlein mag schnell ausgelesen sein, aber das Gelesene hallt noch ganz lange nach.

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Tim Sullivan: Der Kriminalist

In Großbritannien sind bereits vier erfolgreiche Kriminalromane (und eine Kurzgeschichte) um DS George Cross von der Major Crime Unit der Polizei von Somerset und Avon erschienen. Bei uns feiert Tim Sullivans ungewöhnlicher Ermittler in „Der Kriminalist“ (deutsche Übersetzung von Frauke Meier) nun sein Debüt.

Ungewöhnlich ist der knapp 50 Jahre alte George Cross deshalb, weil er von einer Autismus-Spektrum-Störung betroffen ist und ganz klare Anzeichen des Asperger-Syndroms zeigt. Seine kaum ausgeprägten Fähigkeiten zu sozialer Interaktion stellen seine Kolleginnen und Vorgesetzten vor allerlei Herausforderungen, aber mit seiner akribischen, strukturierten Arbeitsweise und seinem untrüglichen kriminalistischen Spürsinn erreicht er bei seinen Fällen eine beeindruckend hohe Aufklärungsquote.

Auch als in Bristol ein älterer Mann stranguliert aufgefunden und das Verbrechen von der Polizei schnell als tödlicher verlaufener Streit im Obdachlosen-Milieu eingestuft wird, trügt Cross‘ erstes Gespür, dass hinter der Sache etwas Größeres stecken könnte, nicht. Es stellt sich heraus, dass es sich bei dem Ermordeten um einen ehemaligen Zahnarzt handelt (daher auch der Originaltitel „The Dentist“), der nach dem gewaltsamen, nur halbherzig aufgeklärten Tod seiner Ehefrau den Boden unter den Füßen verloren hat und spurlos verschwunden ist. Jahre, nachdem er von seiner Familie und den Behörden für tot erklärt worden ist, tauchte er kurz vor seiner eigenen Ermordung also wieder in seiner Heimatstadt auf – offenbar mit neuen Erkenntnissen zum Mord an seiner Frau vor 15 Jahren. Cross vermutet, dass die beiden Verbrechen miteinander zu tun haben könnten und schreckt nicht davor zurück, Ermittlungen auch in den Reihen der Polizei anzustellen.

Obwohl „Der Kriminalist“ einen recht interessanten, gut konstruierten Kriminalfall präsentiert, liegt die große Stärke des Romans ganz eindeutig in seinen starken Charakteren. Der mit viel Einfühlungsvermögen gezeichnete George Cross ist eine gelungene Abwechslung zu den gewohnten 08/15-Ermittlern und mit der resoluten Josie Ottey und der etwas übereifrigen Nachwuchspolizistin Alice Mackenzie stehen ihm zwei Kolleginnen zur Seite, die das Potenzial dazu haben, im weiteren Verlauf der Reihe noch mehr an Profil zu gewinnen. Da ein spezielles Augenmerk natürlich auf Cross‘ besonderer Arbeitsweise und seiner speziellen Interaktion mit anderen Menschen liegt, spielt sich die Handlung zu einem guten Teil in Verhörräumen ab und ist generell recht dialoglastig. Will heißen, dass Freundinnen und Freunde von Actionszenen und Hochspannung hier nicht unbedingt auf ihre Kosten kommen. Aber selbst, wenn man eine ruhige Erzählweise schätzt, ist man auf den sehr üppig bemessenen 500 Seiten mit ein paar Längen konfrontiert. Auch die Auflösung des Falles lässt sich mit etwas Krimierfahrung schon locker 100 Seiten vor dem Ende zumindest in groben Zügen erahnen, was der Spannung nicht unbedingt dienlich ist.

Trotz einiger Schwächen ist „Der Kriminalist“ aber ein gelungener Reihen-Auftakt. Bleibt zu hoffen, dass die Folgebände auch bald auf Deutsch erscheinen und es ein Wiedersehen mit DS George Cross gibt!

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Im Januar ’23 gelesen

Gerade eben war doch noch Weihnachten und schon neigt sich der Januar wieder dem Ende entgegen – verrückt, wie die Zeit vor sich hinrast! Weihnachten ist aber ein gutes Stichwort, denn abgesehen vom neuen Buch von Arno Geiger (den ich zum Monatsabschluss noch auf einer Livestream-Lesung aus dem Hamburger Literaturhaus erleben darf) lagen alle Januar-Lektüren unter dem Weihnachtsbaum. Gute Geschenke allesamt, wobei ich vor allem mit Mariana Leky und Dagmar Leupold, die sich sprachlich und hinsichtlich ihrer Vorliebe für leicht windschiefe Figuren relativ nah sind, viel Freude hatte. Selbiges gilt auch für Arno Geiger – ein gelungener Abschluss für einen sehr gelungenen Lesemonat ohne Ärger und Verdruss.

Mariana Leky: Kummer aller Art // Eine sichere Bank für einen ebenso vergnüglichen wie klugen Einstieg ins neue Lesejahr: Mariana Lekys gesammelte (und leicht überarbeitete) Kolumnen aus der Zeitschrift „Psychologie Heute“. Wie der Titel verrät, geht es in den 39 jeweils knapp vier Seiten langen Geschichten um „Kummer aller Art“ – von diversen Ängsten und Schlaflosigkeit über Liebeskummer und Zwangsneurosen bis hin zu allgemeiner Seelenverknitterung.

Gewohnt fein beobachtet und erzählt im ganz eigenen „Leky-Sound“, sind es vor allem die wiederkehrenden Figuren, die diese Miniaturen so liebenswert machen. Man kann gar nicht anders, als den schwermütigen Herrn Pohl mit seinem altersschwachen Zwergpinschermischling Lori, die zaudernde, stets etwas verzagte Frau Wiese oder den Rilke-Verehrer Onkel Ulrich, der auch im Ruhestand nicht aus der beruflichen Rolle des Psychoanalytikers heraus kann, umgehend ins Herz zu schließen.

Was sich aus „Kummer aller Art“ fürs neue Jahr mitnehmen lässt? Nun, vielleicht sollten wir uns alle darum bemühen, unseren Mitmenschen freundlicher, staunender und gütiger gegenüberzutreten. Einen Versuch ist es auf jeden Fall wert.

Katherine May: Überwintern // Mehr zu diesem und anderen Winterbüchern HIER.

Dagmar Leupold: Dagegen die Elefanten // Der Deutsche Buchpreis mag es zwar gelegentlich etwas krachig und schillernd, aber dennoch hat es Dagmar Leupold mit dem leisen Helden ihres Romans „Dagegen die Elefanten!“ auf die letztjährige Longlist geschafft. Nach 2013 und 2016 bereits ihre dritte Nominierung.

Der angesprochene „Held“ ist Herr Harald, ein unscheinbarer, nicht mehr ganz junger Mann, der seinen Dienst an der Garderobe der Oper (Balkon links) mit großer Ernsthaftigkeit und tadellosen Manieren versieht. Von anderen kaum bemerkt und dementsprechend einsam, ist der Junggeselle selbst ein genauer Beobachter, der schöne Wörter, die Ergebnisse seiner Grübeleien und nicht zuletzt seine unschuldige Schwärmerei für die Frau, die bei ausgewählten Klavierkonzerten die Noten umblättert, akribisch in seinem Notizbuch festhält.

Ein Jahr lang begleiten wir Herrn Harald bei seinen alltäglichen Verrichtungen und auf seinen Spaziergängen durch München. Trotz einer sacht angedeuteten Krimihandlung um einen mysteriösen vergessenen Mantel (darin: eine Schreckschusspistole) überschlagen sich die Ereignisse auf den etwas mehr als 250 Seiten nicht gerade – eher passt sich das Buch dem gemäßigten Lebenstempo seines Protagonisten an.

Ich habe „Dagegen die Elefanten!“ trotz der wenig aufregenden Handlung sehr gerne gelesen. Herr Harald ist ein äußerst angenehmer Begleiter für ein paar ruhige Lesestunden und vor allem sprachlich ist der Roman ganz wunderbar gelungen – für mich auf jeden Fall preisverdächtig.

Arno Geiger: Das glückliche Geheimnis // Arno Geiger verrät uns in seinem neuen Buch ein Geheimnis. Ein Vierteljahrhundert lang streifte er regelmäßig durch die Straßen Wiens, um Altpapiercontainer nach Brauchbarem zu durchwühlen. In seiner Zeit als Student und erfolgloser Möchtegern-Schriftsteller suchte er neben interessanter Lektüre für sich selbst vor allem nach Dingen, die sich auf dem Flohmarkt zu Geld machen ließen.

Doch auch später machte der mittlerweile erfolgreiche Autor seine Runden – dann eher auf der Suche nach Briefen und Tagebüchern, die ihm als Inspiration für die Figuren seiner eigenen Werke dienten. „Feldstudien“, wie er selbst es nennt. Für seinen Roman „Unter der Drachenwand“ zum Beispiel las Arno Geiger rund 20.000 Briefe aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs; ein Drittel davon hatte er aus dem Müll gefischt.

„Das glückliche Geheimnis“ ist ein wunderbares Buch, in dem es keineswegs nur ums heimliche Sammeln von Altpapier geht. Es ist ein sehr persönlicher Einblick in das Leben und Arbeiten des Autors und nicht zuletzt eine Art Fortsetzung von „Der alte König in seinem Exil“. Ein Buch über das Bewahren und das Verschwinden, über das Vergehen der Zeit und Trauer, über die Dinge, die wirklich wichtig sind. Und natürlich ein Plädoyer für die großen und kleinen Geheimnisse in unserem Leben.

Die Fotos und Kurzrezensionen in diesem Beitrag sind zuerst auf meinem Instagram-Account erschienen. Schaut doch gerne einmal vorbei, um stets auf dem aktuellen Stand zu bleiben – ich freue mich!

Peter Süß: 1923

Willkommen, 2023! Was das neue Jahr bringt, steht natürlich noch in den Sternen, weshalb jetzt ein ganz guter Moment ist, den Blick erst einmal in die Vergangenheit zu richten. 100 Jahre zurück zum Beispiel, wie es Peter Süß in „1923. Endstation – Alles einsteigen!“ tut. Dabei folgt der Autor dem spätestens seit Florian Illies‘ Bestseller „1913“ ebenso beliebten wie bewährtem Muster und lässt die zentralen Ereignisse des turbulenten Jahres in chronologischer Reihenfolge Revue passieren, wobei sich die Abschnitte manchmal nur über einen Satz, manchmal über mehrere Seiten erstrecken.

Da politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen ebenso viel Platz einnehmen wie Kultur, Unterhaltung und Promi-Tratsch, entfaltet sich im Laufe der Lektüre das Bild eines von Gegensätzen geprägten Jahres, das sich nur schwer in wenigen griffigen Schlagworten zusammenfassen lässt. Auf der einen Seite stellt die völlig außer Kontrolle geratende Hyperinflation weite Teile der deutschen Bevölkerung vor existenzielle Nöte, zudem schürt die Besetzung des Ruhrgebiets durch belgische und französische Truppen neue Kriegsängste. Die politischen und wirtschaftlichen Verwerfungen nutzt der damals 34 Jahre alte Adolf Hitler, um zumindest in Bayern an Einfluss zu gewinnen. Der Putschversuch vom 8. und 9. November misslingt zwar und bringt Hitler eine Haftstrafe ein, aber ohne die Lehren aus dem Jahr 1923 wären die schrecklichen Ereignisse ab 1933 kaum vorstellbar gewesen.

Trotz der vielen Nöte und düsteren Vorboten ist 1923 auf der anderen Seite aber auch von allerlei schillernden Ablenkungen geprägt. Warenhäuser locken mit immer prächtigeren, für die meisten freilich völlig unerschwinglichen Angeboten, eine Begeisterung für Okkultes und Parapsychologisches macht sich breit (sogar bei Thomas Mann, der ansonsten mit der Fertigstellung des „Zauberbergs“ kämpft) und überhaupt stehen die goldenen Zwanziger schon in den Startlöchern.

Hinter jeder Ecke lauert die Katastrophe, und jeder weiß es. Also lasst uns taumeln im Jazz-Delirium! Nichts als ein kurioses Missverständnis, die „goldenen zwanziger Jahre“, die nie golden waren, auf die Zeit zwischen 1924 und 1929 zu begrenzen. Alles ist bereits da in diesem Jahr 1923!

Und die Künstlerinnen und Literaten? Nun, auch deren Leben sind geprägt von allerlei Gegensätzen. Else Lasker-Schüler leidet an beklemmender Geldnot, was zu diversen Streitigkeiten führt. Bertold Brechts Stern am Theaterhimmel geht endgültig auf, wobei er zunächst von Misserfolg zu Misserfolg eilt – sowohl auf der Bühne als auch im Liebesleben. Kurt Tucholsky dagegen hat erst einmal genug von der Literatur und beginnt mit 33 Jahren eine Banklehre. Der bereits schwer an Tuberkulose erkrankte Franz Kafka lernt mit der 15 Jahre jüngeren Dora Diamant seine letzte große Liebe kennen, während bei Erich Kästner zwar eine Beziehung zerbricht, aber eine erste Erzählung veröffentlicht wird. Ende des Jahres erblickt außerdem einer der ganz Großen das Licht der Welt:

Nirgendwo ein Lichtblick? Doch: Am 12. November wird in Brandenburg an der Havel Loriot geboren.

Mit „1923“ ist Peter Süß ein hervorragendes Buch gelungen, durch das man mit großem Vergnügen hindurcheilt. Dass der Autor in den vergangenen Jahren vor allem für Film und Fernsehen gearbeitet hat, kommt dem Lesefluss dabei sehr zugute – prägende Ereignisse wie der Hitlerputsch werden mit genauer Beobachtungsgabe und viel Gespür fürs richtige Timing dargestellt, während an anderer Stelle Witz und leise Ironie dominieren. Eine äußerst unterhaltsame Geschichtsstunde!

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Malachy Tallack: 60° Nord

Nach dem frühen Tod seines Vaters träumte Malachy Tallack davon, eines Tages die Welt entlang des 60. nördlichen Breitengrades zum umrunden. Knapp ein Jahrzehnt später begann der schottische Autor, Journalist und Musiker damit, den Traum in die Tat umzusetzen und reiste von den heimischen Shetland-Inseln aus in westliche Richtung einmal den 60. Breitengrad bis zum Ausgangspunkt entlang. Dokumentiert hat Malachy Tallack, der mit seinem Debütroman „Das Tal in der Mitte der Welt“ auch bei uns etwas Bekanntheit erlangte, dieses Projekt in „60° Nord“. Das im Original bereits 2016 erschienene Buch liegt in der Übersetzung von Klaus Berr nun auch auf Deutsch vor.

Nach Norden zu gehen, heißt für mich, nach Hause zu gehen, und jede Reise, die ich in diese Richtung mache, bringt das Gefühl einer Rückkehr mit sich.

Gleich zu Beginn seiner Reise tut sich für den Autor auf Shetland ein kleines Problem auf, denn er möchte den symbolischen ersten Schritt unbedingt direkt auf dem auf den Karten verzeichneten 60. Breitengrad tun – allerdings ist dieser in der Realität der rauen, windumtosten Inselgruppe gar nicht so einfach zu finden. Deshalb dient der 60. nördliche Breitengrad im weiteren Verlauf eher als Orientierungspunkt, der gelegentlich leicht unter- bzw. überschritten wird. Von Shetland aus geht es nach Grönland, in den nur dünn besiedelten Norden Kanadas, nach Alaska, von Sibirien und St. Petersburg – die größte Stadt entlang des Breitengrades – nach Finnland und schließlich über Schweden und Norwegen wieder zurück nach Shetland.

Allerdings handelt es sich bei der in „60° Nord“ beschriebenen Route nicht um eine einzige zusammenhängende lange Reise, sondern um mehrere, über einen Zeitraum von mehreren Jahren absolvierte Trips. Damit fehlt dem Buch leider das auf Reisen so besondere „Dazwischen“, das Unterwegssein, auf dem sich oft mehr Erkenntnisse gewinnen lassen als an den eigentlichen Zielen. Was ändert sich, wenn man nicht mehr in Alaska ist, sondern in Sibirien? Was bleibt gleich und was haben die Menschen gemeinsam, die im hohen Norden in unterschiedlichen Ländern leben? Welche Auswirkungen haben die unglaubliche Weite dieser Gegend und das Unterwegssein unter oft widrigen Bedingungen auf den Reisenden? Antworten auf all diese Frage bekommt man höchstens ganz am Rande. Stattdessen ist „60° Nord“ in erster Linie eine Sammlung von Reisereportagen von oft recht unterschiedlicher Qualität. Das Kapitel über Grönland zum Beispiel gerät äußerst zäh, weil Malachy Tallack schon am zweiten Tag nach seiner Ankunft grippekrank im Bett bleiben muss. In Kanada und Alaska dagegen gibt es launige Szenen in einem Buchladen-Café am Ende der Welt und mit einem vermeintlich angriffslustigen Bären, der sich als harmloser Labrador entpuppt. Das Finnland-Kapitel kommt natürlich ohne den obligatorischen Saunabesuch nicht aus, während der Abschnitt über St. Petersburg dank der weltpolitischen Entwicklungen des zu Ende gehenden Jahres äußerst aktuell und aufschlussreich ist. Überhaupt dürften sich geschichtsinteressierte Leser*innen von „60° Nord“ besonders angesprochen fühlen. Der persönlicher gehaltene Teil und die versprochene „Suche nach einem Zuhause“ bleiben im Vergleich dazu eher blass.

So ist „60° Nord“ leider ein etwas unentschlossenes Buch, das viel Potenzial ungenutzt liegen lässt.

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Bücher für den Winter

Winterzeit ist Lesezeit. Als passionierte Bücherfreund*innen wissen wir natürlich, das immer Lesezeit ist, aber tatsächlich machen die dicken Wälzer und die großen Geschichten in den kalten, dunklen Monaten des Jahres besonders viel Freude.

Ich habe vor einer Weile eine kleine Liste von Romanen und Sachbüchern angelegt, die ich in diesem Winter gerne zum ersten oder ein weiteres Mal lesen möchte. Alle werde ich bestimmt nicht schaffen und womöglich kommen noch ein paar unverhoffte Neuzugänge hinzu. Je nach Lust und Laune eben – eine mit fast bürokratischem Eifer organisierte „Lese-Challenge“ soll es auf keinen Fall werden. Vielmehr möchte ich nach jedem beendeten Buch einen kurzen persönlichen Eindruck teilen, so dass dieser Beitrag nach und nach wächst und bestenfalls zu einer Inspirationsquelle für Eure nächste winterliche Lektüre wird.

Daniel Mason: Der Wintersoldat

Gelangweilt vom sehr theoretischen Medizinstudium, meldet sich der junge Wiener Lucius Anfang 1915 freiwillig als Sanitätsoffizier und landet in einer zum Feldlazarett umfunktionierten Kirche im unwirtlichen Bergland Galiziens. Dort erwarten den blitzgescheiten Sprössling aus bestem Hause Herausforderungen, auf die er an der Universität nicht annähernd vorbereitet wurde. Schlimmste Kriegsverletzungen und damit einhergehende Infektionen erfordern ein beherztes und äußerst handfestes Einschreiten – trotzdem gibt es für einen nicht unerheblichen Teil der Patienten keine Rettung mehr. Einzig die resolute Kranken- und Ordensschwester Margarete bewahrt Lucius vor der Verzweiflung. Natürlich entspinnt sich bald eine zarte Bande zwischen den beiden Schicksalsgenossen.

Eine dramatische Wendung nimmt der ohnehin bedrückende Alltag im Lazarett, als immer mehr äußerlich weitgehend unversehrte, aber von den Erlebnissen an der Front schwer traumatisierte Soldaten im Lazarett eingeliefert werden. Unter diesen Männern ist auch der titelgebende „Wintersoldat“, den der unsichere Lucius nicht vor der Willkür höherrangiger Militärs schützen kann – ein Fehler, über den er lange nicht hinwegkommt. Gleichzeitig rückt das Kriegsgeschehen immer näher an das abgelegene Behelfskrankenhaus heran, was letzten Endes dazu führt, dass Lucius und Margarete, an deren Ordenszugehörigkeit es inzwischen doch arge Zweifel gibt, getrennt werden und sich aus den Augen verlieren.

Zurück in Wien scheitert Lucius weitgehend daran, den Weg zurück in ein normales Leben zu finden. Es hilft alles nichts: er muss sich auf die Suche nach Margarete machen, von der er wenig mehr als den Vornamen weiß und sich nicht einmal sicher sein kann, dass sie den Krieg und die folgende große Grippewelle überlebt hat.

Daniel Masons Roman hat alles, was ein herrlicher Schmöker für lange Winterabende braucht: Dramatik, Liebe, Verrat, Vergebung, überraschende Wendungen und prägnante Charaktere. Gerade in der ersten Hälfte ist „Der Wintersoldat“ mit seinen recht detaillierten Schilderungen von schwersten Verletzungen und Amputationen nichts für Zartbesaitete, aber mit zunehmender Dauer gerät die Geschichte in ein etwas ruhigeres Fahrwasser, was jedoch nicht zulasten der Spannung geht. Ein paar Längen gilt es zwischendurch zwar zu überbrücken und auch die Auflösung am Ende ist keine ganz große Überraschung, aber insgesamt lohnt sich die Lektüre auf jeden Fall.

  • Daniel Mason: Der Wintersoldat; Deutsch von Sky Nonhoff und Judith Schwaab; dtv Taschenbuch; 432 Seiten; ISBN: 978-3-423-14807-8.

David Park: Reise durch ein fremdes Land

Kurz vor Weihnachten: Ein Schneechaos hat die Britischen Inseln im Griff, die Flughäfen sind geschlossen, die Straßen kaum befahrbar. Bei diesen widrigen Bedingungen kämpft sich Tom von Nordirland ins englische Sunderland, um seinen kränkelnden Sohn an dessen Studienort abzuholen. Zum Fest – dem ersten nach einem schweren Schicksalsschlag – soll die Familie unbedingt vereint sein.

Auf der langen Fahrt hört Tom die Smiths, The National und Van Morrison und denkt viel nach. Über das vergangene Jahr, seine nicht immer glückliche Rolle als Vater und Ehemann, und seinen Beruf als Fotograf, der seine künstlerischen Ambitionen bald zugunsten von Hochzeits- und Familienfotografie aufgegeben hat.

Das mache ich oft – mir Bilder ausdenken, die in ein künftiges Glück führen sollen, aber sie bleiben nicht lang, verblassen fast sofort, nachdem sie ausgedruckt und dem Licht ausgesetzt sind, weil hartnäckigere, schmerzlichere an ihre Stelle treten, über die mein Wille keine Macht hat.

Mit „Reise durch ein fremdes Land“ ist David Park ein hervorragender Romangelungen – einfühlsam, klug und berührend. Vor allem das letzte Viertel des nur knapp 190 Seiten kurzen Buches ist dabei eine echte Wucht!

  • David Park: Reise durch ein fremdes Land; Deutsch von Michaela Grabinger; DuMont Taschenbuch; 192 Seiten; ISBN: 978-3-8321-6652-6

Katherine May: Überwintern

„Winter“ – das ist für Katherine May nicht nur eine Jahreszeit, sondern ein Sammelbegriff für all die Zeiten, in denen das Leben aus welchen Gründen auch immer komplett auf Eis liegt oder zumindest vorübergehend eine unerwartete Wendung nimmt. In „Überwintern“ (übrigens auch der Titel eines Gedichts von Sylvia Plath, das im Buch eine Rolle spielt) erzählt die Britin, mit welchen Strategien sich große Umbrüche und Herausforderungen etwas leichter bewältigen lassen und wie es gelingt, nach einer Phase des Ruhens und Heilens wieder aus dem „Winterschlaf“ herauszufinden.

„Überwintern“ ist zum Glück kein pseudowissenschaftlicher Ratgeber, sondern vielmehr ein ruhig und sympathisch erzähltes Memoir, aus dem man sich als Leserin oder Leser Anregungen fürs eigene Leben herauspicken kann. Eine Lektüre, die zwar nicht mit völlig neuen Erkenntnissen aufwartet, die aber beruhigt und Trost spendet – zumindest, wenn es sich beim gerade zu meisternden Winter wie in meinem Fall tatsächlich nur um den grauen, verregneten Januar handelt.

  • Katherine May: Überwintern. Wenn das Leben innehält; Deutsch von Marieke Heimburger; Insel Taschenbuch; 272 Seiten; ISBN: 978-3-458-68243-1.