Jonathan Lee: Der große Fehler (2021)


Nicht einen, sondern gleich zwei große Fehler kann man bei bzw. vor der Lektüre dieses auf Tatsachen beruhenden Romans machen. Beide sollte man unbedingt vermeiden, um das Lesevergnügen nicht nachhaltig zu trüben. Zum einen darf man vorab keinesfalls den Wikipedia-Eintrag zur Hauptfigur Andrew Haswell Green lesen – dort findet sich nämlich die Antwort auf die zentrale Frage des Buches. Zum anderen sollte man nicht dem Blurb auf den Leim gehen, der behauptet, dass man es hier mit einem der »spannendsten Kriminalromane des Jahres« zu tun habe.

Ein Kriminalroman ist »Der große Fehler« nämlich nur im allerweitesten Sinne. Der aufsehenerregende Mord am damals bereits 83 Jahre alten Andrew Haswell Green, der am 13. November 1903 (ein Freitag!) am helllichten Tag mitten auf der Park Avenue von einem Mann namens Cornelius Williams erschossen wird und die Suche nach dem Motiv des offenbar verwirrten Schützen dienen nur als Aufmacher und roter Faden für eine Geschichte, die sich über viele Jahrzehnte erstreckt.

Im Zentrum der Handlung steht die Lebensgeschichte von Andrew Haswell Green, der einen beeindruckenden Aufstieg hinlegt vom armen Sohn einer kinderreichen Farmerfamilie zu einem angesehenen Anwalt und Stadtplaner, dem New York unter anderem den Central Park, die New York Public Library sowie das Metropolitan Museum of Art verdankt und der dank seiner Bemühungen um die Vereinigung Manhattans mit den umliegenden Städten als »Father of Greater New York« gilt. Dieser schier märchenhafte Aufstieg bedeutet aber nicht automatisch, dass Green ein besonders glücklicher Mensch war. Ganz im Gegenteil – und das selbst, wenn man das gewaltsame Ende außen vor lässt. Als Junge litt er unter dem frühen Tod der Mutter und der Zurückweisung seines Vaters, der ihn als zu verweichlicht für einen angehenden Farmer hielt und ihn deswegen mit nur 15 Jahren nach New York in die Lehre bei einem Lebensmittelhändler schickte. Später plagten den homosexuellen Green vor allem große Einsamkeit und der Umstand, dass er sich nie zu seiner Liebe zu seinem Gefährten und Förderer, dem ambitionierten Anwalt und späteren Präsidentschaftskandidaten Samuel J. Tilden, bekennen konnte – das Bekanntwerden einer gleichgeschlechtlichen Beziehung hätte für die beiden Männer in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Ende der Karriere und noch viel Schlimmeres bedeutet.

Von diesem Leben mit mindestens so viel Schatten wie Licht erzählt Jonathan Lee ebenso einfühlsam wie unterhaltsam. Es gibt Passagen, in denen »Der große Fehler« ein herrliches Vergnügen mit fast slapstickhaftem Humor ist, an anderer Stellen dagegen ist der Roman ganz leise und sehr traurig. Das ist schon ziemlich gut gelungen, aber dennoch hätte ich mir einen noch stärkeren Fokus auf Green gewünscht. Seine Verdienste um New York werden in erster Linie angedeutet. In dieser Hinsicht hätte das Buch gerne etwas ausführlicher sein dürfen. Dafür fehlte aber wohl der Platz, weil schließlich auch noch mehrere Nebenhandlungen untergebracht werden mussten. Der im Mord an Green ermittelnde raubeinige Inspector McClusky und die Edel-Prostituierte Bessie Davis spielen zwar bei der Aufklärung des Kriminalfalles wichtige Rollen und tragen auch zum Gesellschaftsporträt von New York im ausgehenden 19. Jahrhundert bei (unter anderem erschließt sich, warum ein Elefant auf dem Buchcover zu sehen ist), nehmen aber doch etwas zu viel Raum ein und lassen den Roman zum Teil etwas unentschlossen und zusammengewürfelt wirken.

Trotzdem ist »Der große Fehler« ein lesenswertes Buch – vor allem, wenn man ein Faible für die Geschichte New Yorks und die Zeit um die vorletzte Jahrhundertwende hat.

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