Percival Everett: James

„Die Abenteuer des Huckleberry Finn“, erzählt aus einer anderen Perspektive. Nicht wie bei Mark Twain aus der des Titelhelden, sondern aus der Sicht des Sidekicks Jim. War der entflohene Sklave im Original aus dem Jahr 1885 ein liebenswerter, aber recht simpel gestrickter Zeitgenosse, ist er bei Percival Everett ein gebildeter, feinfühliger junger Mann, der lieber als James angesprochen werden möchte. Jim ist er nur, wenn Weiße in der Nähe sind. Das wirkt schlichter und harmloser. Deshalb unterhalten sich die Sklaven in der Gegenwart weißer Menschen auch in einer etwas einfältigen Kunstsprache, damit diese sich stets überlegen fühlen und keinen Anlass für Bestrafungen haben. „Je besser sie sich fühlen, desto sicherer sind wir“, ist die einhellige Meinung.

Diese Sklavensprache ist ein toller erzählerischer Kniff (ähnlich Colson Whiteheads Idee, aus der „Underground Railroad“ eine echte Eisenbahn zu machen), wirkt aber gerade in der deutschen Übersetzung doch etwas gewöhnungsbedürftig. Kostprobe: „Vielleich lernich min Büchern ja selber lesn.“

An die Kunstsprache gewöhnt man sich beim Lesen aber schnell (ohnehin kommt sie im weiteren Verlauf des Buches immer seltener zum Einsatz) und dann staunt man über die Meisterleistung, die Percival Everett gelungen ist. „James“ liest sich genauso süffig und leicht wie Mark Twains Original, ist aber zugleich erschütternd, aufwühlend, brutal und damit deutlich näher an der Wirklichkeit. Für James, der sich nichts sehnlicher wünscht als ein freies Leben für sich und vor allem seine Frau Sadie und die kleine Tochter Lizzie, ist die Flucht eben kein launiges Abenteuer, sondern eine Existenzfrage. Jeder noch so kleine Fehler – wie der Diebstahl eines Bleistifts – kann schlimmste Folgen für ihn oder andere haben. Ob die Geschichte für James ein gutes Ende nimmt, bleibt offen – zumindest ist am Ende doch ein wenig Hoffnung.

In diesem Augenblick trat mir die Macht des Lesens deutlich und real vor Augen. Wenn ich die Worte sehen konnte, dann konnte niemand sie oder das, was sie mir gaben, kontrollieren. […] Es war eine vollkommen private Angelegenheit, vollkommen frei und daher vollkommen subversiv.

Ein großartiger Roman, der in einer längst vergangenen Zeit spielt und zugleich mehr über das Amerika der Gegenwart erzählt, als einem lieb sein kann.

  • Percival Everett: „James“; Hanser 2024; 336 Seiten; ISBN: 978-3-446-27948-3.
    Ins Deutsche übersetzt von Nikolaus Stingl.
  • Zum Weiterlesen: Mark Twain – „Tom Sawyer & Huckleberry Finn“ (Anaconda 2011; 672 Seiten; ISBN: 978-3-866-47698-1) // Deutsch von Lore Krüger und Barbara Kramer-Neuhaus.

Martina Bogdahn: Mühlensommer


Nach dem Abitur wollte Maria nur eines: So schnell wie möglich weg vom elterlichen Hof im (fiktiven) mittelfränkischen Kaff Blumfeld. Hat geklappt. Aber nun steht sie knapp ein Vierteljahrhundert später als stets gestresste alleinerziehende Mutter zweier Teenager-Töchter nach einem aufreibenden Agentur-Tag in drückenden weißen Turnschuhen in der angesagtesten Brotmanufaktur der Großstadt um den letzten Laib mit fermentierten Birnen an. Da kann man sich schon fragen, ob das jetzt wirklich besser ist als das Landleben. Zum Glück lassen sich solche Fragen ganz wunderbar verdrängen, wenn sie sich nicht – wie bei Maria – mit aller Macht in den Vordergrund drängen.

Anruf der Mutter: Der Vater hatte einen schweren Unfall, OP, Ausgang ungewiss, bitte sofort kommen! Zurück in der alten Heimat, um die Maria lange einen großen Bogen gemacht hatte, ist auf einmal alles wieder da. Die schönen und nicht so schönen Erinnerungen aus der Kindheit, nie geklärte innerfamiliäre Konflikte und viel zu lange aufgeschobene Entscheidungen wie die nach der Hofnachfolge. Einfach ist das alles nicht, aber am Ende gibt es doch eine Lösung – und die hat auch etwas mit Brot zu tun. Allerdings nicht mit dem prätentiösen Wichtigtuer-Gebäck aus dem In-Viertel…

Riech doch mal! Gibt‘s was Besseres, als ein frisches Sauerteigbrot auszupacken, den Duft einzuatmen und dann die erste Scheibe mit Butter zu essen?

Martina Bogdahns warmherzig erzählter, autobiographisch geprägter Debütroman ist längst nicht so idyllisch, wie Titel und Covergestaltung es vermuten lassen. Das Landleben wird nicht romantisiert, sondern so dargestellt, wie es wohl in den meisten Fällen ist. Mit allen Vorzügen und Zumutungen. Gerade deshalb habe ich das Buch sehr gerne gelesen. Und natürlich auch, weil mich viele der in Rückblenden erzählten Kindheitsepisoden an meine eigene Kindheit in den 1980ern und frühen 1990ern erinnert haben. Nicht auf dem Land, sondern am dörflich geprägten Rand einer Kleinstadt, weshalb ich gerne an gelbe(s) und weiße(s) Limo, hitzefrei und Tage im Freibad zurückdenke, aber heilfroh bin, dass ich niemals bei einer Hausschlachtung einen Schweinedarm ausspülen musste.

  • Martina Bogdahn: „Mühlensommer“; Kiepenheuer & Witsch 2024; 336 Seiten; ISBN: 978-3-462-00478-6.
  • In den nächsten Wochen und Monaten ist die Autorin auf ausgedehnter Lesereise. Besonders schön wird bestimmt die Lesung am 17. Juli im Stadtpark Fürth mit Ewald Arenz. Alle Termine hier.

** Vielen Dank an den Verlag für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars! Auf meine Meinung zum Buch hatte das natürlich keinen Einfluss. **

Charles Lewinsky: Rauch und Schall

Welch ein Schlamassel! Eigentlich hatte sich Goethe von seiner dritten Reise in die Schweiz im Jahr 1797 Inspiration für die Überarbeitung seines „Faust“ erhofft. Doch nun, zurück in Weimar, plagen ihn nicht nur Hämorrhoiden, sondern auch eine ausgewachsene Schreibblockade. Nicht einmal ein kleines Festgedicht anlässlich des Geburtstags von Herzogin Luise – kaum mehr als eine Fingerübung – mag ihm gelingen. Als wäre der Umstand, dass eine Geistesgröße wie Goethe keine zwei Worte zu Papier bringt, nicht schon beklagenswert genug, soll ihm ausgerechnet sein Schwager Christian August Vulpius bei der Bewältigung des Problems behilflich sein. Ein einfacher Bibliotheksangestellter und mäßig talentierter Auftrags-Schreiberling – wo kommen wir denn da hin? Aber siehe da, Vulpius‘ Methoden funktionieren erstaunlich gut. Fast schon zu gut…

Ob sich die Episode aus Goethes Leben, von der Charles Lewinsky in seinem äußerst vergnüglich zu lesenden Roman „Rauch und Schall“ berichtet, tatsächlich so zugetragen hat, darf bezweifelt werden. Aber immerhin zeigt sich der sonst gerne als makelloser Dichterfürst und Tausendsassa gefeierte Goethe in dieser Geschichte von einer anderen, vermutlich realistischeren Seite. Nämlich als spleeniger, hochnäsiger Zeitgenosse, der sich seiner Bedeutung jederzeit mehr als bewusst ist und der durch seinen überheblichen Umgang mit dem unterwürfigen Vulpius nicht gerade sympathischer wird. Heimlicher Star von „Rauch und Schall“ ist ohnehin Goethes Lebensgefährtin und spätere Ehefrau Christiane, die die Eigenheiten der Herren mit viel Gelassenheit hinnimmt (man stellt sie sich als ständig augenrollend vor) und mit sanftem Spott kommentiert – natürlich, ohne dass dies den allzu sehr mit sich selbst beschäftigten Männern je auffällt.

„Rauch und Schall“ ist allen ans Herz zu legen, die klassische Literatur, gut zusammenfabulierte Geschichten und eine herrlich altertümliche Sprache (allein das Wort „Schmauchlümmel“) schätzen. Ein feines Buch für Frühlingstage im Garten mit Kaffee, Eierschecke und Huckelkuchen (*).

(*) Beide Kuchen verzehrt Goethe im Roman mit viel Genuss. Da würde ich auch gerne zugreifen. Bei anderen erwähnten Gerichten wie Nierenschnitten, gepökelter Rinderzunge mit Kapern und vor allem Karpfen in Köstritzer Schwarzbier-Sauce bin ich dagegen raus.

Leonie Schöler: Beklaute Frauen (2024)


Die europäische Geschichte der letzten gut 200 Jahre wirkt auf den ersten Blick wie eine einzige Ahnengalerie genialer weißer Männer. Dass das zum einen daran liegt, dass patriarchale Strukturen Frauen (und allen anderen Personen, die nicht den gängigen Männlichkeitsvorstellungen entsprachen) lange Zeit den Zugang zu höherer Bildung und öffentlicher Teilhabe mindestens erheblich erschwert haben, sollte sich inzwischen herumgesprochen haben.

Davon, dass es zum anderen aber natürlich auch früher sehr wohl viele Frauen gegeben hat, die zwar Großes geleistet haben, aber entweder in Vergessenheit geraten sind oder sogar systematisch aus dem Bild gedrängt wurden, handelt Leonie Schölers Buch „Beklaute Frauen“.

Hinter jedem erfolgreichen Mann steht ein System, das ihn bestärkt; vor allen anderen steht ein System, das sie aufhält.

Leonie Schöler: Beklaute Frauen

Ziel der Historikerin und Journalistin, die mit ihren Beiträgen zu geschichtlichen Themen auch bei Instagram und TikTok ein großes Publikum erreicht, ist es, herauszufinden, wie sich dieses System innerhalb der letzten zwei Jahrhunderte etabliert hat und wie es trotz vieler Veränderungen zum Besseren auch heute noch fortbesteht. Der erste Ausgangspunkt des Buches sind die Französische Revolution und die Revolutionen der Jahre 1848/49. Ohne die tatkräftige Mithilfe zahlreicher Frauen – etwa beim „Brotmarsch“ – hätten die Demonstrierenden damals sicher weit weniger erreicht. Dummerweise profitierten die Frauen am Ende kaum von ihrem Einsatz – der Einfluss von Adel und Kirche schwand in den Folgejahren, an ihre Stelle traten christliche weiße Männer des Bürgertums. Alle anderen gingen weitgehend leer aus.

Ein ernstes Thema, kurzweilig aufbereitet

Für die wenigen Frauen, die dennoch in den Genuss einer höheren Bildung kamen, endete mit Ehe und Kinderkriegen die Laufbahn. Als Forscherin selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen, war lange schlicht undenkbar, zur finanziellen Abhängigkeit vom Ehemann gab es kaum eine echte Alternative. Und die Frauen, die das Glück hatten, sich doch weiter ihrer Wissenschaft widmen zu können, verschwanden oft im Laufe der Zeit aus den Geschichtsbüchern. Wie die Neurologin Cécile Vogt, die mit ihrem Mann Oskar ein weitgehend gleichberechtigtes Forscher-Duo bildete, das vielfach für den Nobelpreis nominiert war. Während Oskar Vogt heute als Pionier der Hirnforschung gilt, taucht Cécile bestenfalls als Randnotiz auf.

Im wahrsten Sinne des Buchtitels „beklaut“ wurde die Biochemikern Dr. Rosalind Franklin, die Entdeckerin der Doppelhelix-Struktur der DNA. Den eigentlich ihr zustehenden Nobelpreis heimsten 1962 und damit ein paar Jahre nach Franklins frühem Tod drei Männer ein, die zugaben, in den Unterlagen ihrer Kollegin gewühlt und deren Erkenntnisse als die eigenen ausgegeben zu haben. Ein dreister Diebstahl, der aber ohne Konsequenzen blieb.

Und so begegnen wir im Lauf der Lektüre vielen weiteren Frauen, deren Leistungen kleingeredet, Männern zugeschrieben oder sonstwie unter den Teppich gekehrt wurden. Lauter Schicksale, die zusammengenommen allerdings das größere Bild einer systematischen Benachteiligung ergeben.

Heute mag zwar vieles wesentlich besser sein, aber trotzdem wirken die lange etablierten und praktizierten Strukturen auch heute noch nach – in Lehrplänen und Vorstandsetagen ebenso wie in Verlagsprogrammen und an Universitäten.

Zur echten Gleichberechtigung ist es weiterhin ein langer Weg. Kluge (und zugleich unterhaltsame) Bücher wie Leonie Schölers „Beklaute Frauen“ sind ein kleiner, aber nicht zu unterschätzender Schritt auf diesem Weg.

** Vielen Dank an den Verlag für das Rezensionsexemplar! **

Zum Weiterlesen: Im Buch wird Johanna van Gogh-Bonger erwähnt, ohne deren vielfältiges Engagement aus ihrem Schwager Vincent van Gogh wohl nie der weltberühmte Künstler geworden wären, der er bis heute ist. Ihrer Geschichte hat Simone Meier den Roman „Die Entflammten“ gewidmet.

Ausstellungstipp: Ein Phänomen, das Leonie Schöler in ihrem Buch anspricht, ist das der „wiederentdeckten Frauen“, deren Werk entweder zu Lebzeiten nicht gewürdigt wurde oder nach ihrem Tod in Vergessenheit geraten ist. Eine dieser „Wiederentdeckungen“ ist die schwedische Malerin Hilma af Klint, der die Kunstsammlung NRW in Düsseldorf gemeinsam mit Wassily Kandinsky noch bis zum 11. August die Ausstellung „Träume von der Zukunft“ widmet. Hilma af Klint und der fast gleichaltrige Wassily Kandinsky gelten beide als Pionier*innen der abstrakten Malerei, doch während Kandinsy selbst wenig an Kunst Interessierten zumindest ein Begriff ist, war af Klint lange Zeit nahezu komplett vergessen.

Jo Browning Wroe: Der Klang der Erinnerung (2022)


Es gibt Bücher, denen man kaum ausweichen kann. Egal, ob man in der Buchhandlung herumstöbert, eine Zeitung aufschlägt oder sich durch die Sozialen Medien scrollt – immer sind sie schon da und betteln um Aufmerksamkeit (momentan zum Beispiel der Roman »Yellowface« von Rebecca F. Kuang). Andere Bücher dagegen werden weit weniger aufdringlich beworben und sind deshalb deutlich unscheinbarer. Hätte mir meine Freundin Doris Jo Browning Wroes Debüt »Der Klang der Erinnerung« nicht nachdrücklich empfohlen, hätte ich es vermutlich übersehen – und ein großartiges Lesevergnügen verpasst.

Der Roman begleitet den jungen William Lavery über einen Zeitraum von gut 15 Jahren (zwischen 1957 und den frühen 1970er Jahren). Der Junge ist nach dem frühen Tod seines Vaters hin- und hergerissen zwischen zwei Welten. Während sich der Vater immer gewünscht hatte, dass William eines Tages das familieneigene Bestattungsunternehmen übernimmt, hofft seine Mutter Evelyn, dass er eine musikalische Laufbahn einschlägt. Auch, weil sie Vorbehalte gegen ihren Schwager Robert und dessen Lebensgefährten Howard hegt (immerhin sind wir in den Fünfzigern im konservativen England), die nun das Unternehmen zu zweit führen.

Evelyn setzt sich durch und William wird Chorknabe in Cambridge, mit dem großen Ziel, das Solo in Allegris »Miserere« zu singen. Ausgerechnet am großen Tag im letzten Jahr am Internat gibt es einen Eklat, der Williams bisheriges Leben auf den Kopf stellt. Die Liebe zur Musik, die Beziehung zur Mutter und die enge Freundschaft zu seinem Mitschüler Martin – alles ist von jetzt auf gleich passé.

Bleibt nur die Flucht zu Robert und Howard und der Einstieg ins Bestattungswesen. Nun scheint sich alles zum Guten zu wenden: William absolviert seine Ausbildung mit Bestnoten und findet in Gloria eine liebenswerte Freundin. Doch wieder ändert sich an einem Tag, der eigentlich als Freudentag geplant war, alles. Auf seiner Abschlussfeier erfährt William, inzwischen 19 Jahre alt, vom verheerenden Haldenrutsch im walisischen Aberfan. Als Freiwilliger eilt er zum Unglücksort – nichtsahnend, dass es sich bei den meisten der größtenteils schlimm zugerichteten Todesopfer um Kinder der örtlichen Grundschule handelt. Während der Arbeit funktioniert William wie eine Maschine, doch die schrecklichen Bilder lassen ihn nicht mehr los. Mit dramatischen Konsequenzen für ihn und die, die ihm am nächsten sind…

Mit »Der Klang der Erinnerung« ist Jo Browning Wroe ein herausragender Roman geglückt, den ich lange nicht vergessen werde. Die klug aufgebaute Handlung – zu gleichen Teilen Familiengeschichte, Coming-of-Age-Roman und Gesellschaftsporträt – wird nicht chronologisch erzählt und hält mit ihren Zeitsprüngen und Szenenwechseln den Spannungsbogen immer hoch. Noch dazu sorgen die höchst unterschiedlichen Handlungsorte Bestattungsunternehmen, Internat und Unglücksstelle für viel Abwechslung. Die größte Stärke von »Der Klang der Erinnerung« sind allerdings die durch die Bank wunderbaren Figuren. Den vom Leben gebeutelten William, die fürsorglichen Bestatter Robert und Howard, die fast unendlich geduldige Gloria, den draufgängerischen Martin mit seiner lauten, chaotischen Familie (mit der es eine grandiose, an John Irving in seinen besten Zeiten erinnernde Szene gibt), Evelyn, deren einziger echter Fehler darin besteht, dass sie zu viel Liebe in sich trägt – alle habe ich beim Lesen sofort ins Herz geschlossen.

In schlechten Büchern ist am Ende alles gut. Die wirklich gelungenen Bücher – und dazu gehört das tragische, lustige, unendlich traurige »Der Klang der Erinnerung« unbedingt – dagegen erkennt man daran, dass zumindest die Möglichkeit einer Wende zum Besseren besteht.

Jonathan Lee: Der große Fehler (2021)


Nicht einen, sondern gleich zwei große Fehler kann man bei bzw. vor der Lektüre dieses auf Tatsachen beruhenden Romans machen. Beide sollte man unbedingt vermeiden, um das Lesevergnügen nicht nachhaltig zu trüben. Zum einen darf man vorab keinesfalls den Wikipedia-Eintrag zur Hauptfigur Andrew Haswell Green lesen – dort findet sich nämlich die Antwort auf die zentrale Frage des Buches. Zum anderen sollte man nicht dem Blurb auf den Leim gehen, der behauptet, dass man es hier mit einem der »spannendsten Kriminalromane des Jahres« zu tun habe.

Ein Kriminalroman ist »Der große Fehler« nämlich nur im allerweitesten Sinne. Der aufsehenerregende Mord am damals bereits 83 Jahre alten Andrew Haswell Green, der am 13. November 1903 (ein Freitag!) am helllichten Tag mitten auf der Park Avenue von einem Mann namens Cornelius Williams erschossen wird und die Suche nach dem Motiv des offenbar verwirrten Schützen dienen nur als Aufmacher und roter Faden für eine Geschichte, die sich über viele Jahrzehnte erstreckt.

Im Zentrum der Handlung steht die Lebensgeschichte von Andrew Haswell Green, der einen beeindruckenden Aufstieg hinlegt vom armen Sohn einer kinderreichen Farmerfamilie zu einem angesehenen Anwalt und Stadtplaner, dem New York unter anderem den Central Park, die New York Public Library sowie das Metropolitan Museum of Art verdankt und der dank seiner Bemühungen um die Vereinigung Manhattans mit den umliegenden Städten als »Father of Greater New York« gilt. Dieser schier märchenhafte Aufstieg bedeutet aber nicht automatisch, dass Green ein besonders glücklicher Mensch war. Ganz im Gegenteil – und das selbst, wenn man das gewaltsame Ende außen vor lässt. Als Junge litt er unter dem frühen Tod der Mutter und der Zurückweisung seines Vaters, der ihn als zu verweichlicht für einen angehenden Farmer hielt und ihn deswegen mit nur 15 Jahren nach New York in die Lehre bei einem Lebensmittelhändler schickte. Später plagten den homosexuellen Green vor allem große Einsamkeit und der Umstand, dass er sich nie zu seiner Liebe zu seinem Gefährten und Förderer, dem ambitionierten Anwalt und späteren Präsidentschaftskandidaten Samuel J. Tilden, bekennen konnte – das Bekanntwerden einer gleichgeschlechtlichen Beziehung hätte für die beiden Männer in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Ende der Karriere und noch viel Schlimmeres bedeutet.

Von diesem Leben mit mindestens so viel Schatten wie Licht erzählt Jonathan Lee ebenso einfühlsam wie unterhaltsam. Es gibt Passagen, in denen »Der große Fehler« ein herrliches Vergnügen mit fast slapstickhaftem Humor ist, an anderer Stellen dagegen ist der Roman ganz leise und sehr traurig. Das ist schon ziemlich gut gelungen, aber dennoch hätte ich mir einen noch stärkeren Fokus auf Green gewünscht. Seine Verdienste um New York werden in erster Linie angedeutet. In dieser Hinsicht hätte das Buch gerne etwas ausführlicher sein dürfen. Dafür fehlte aber wohl der Platz, weil schließlich auch noch mehrere Nebenhandlungen untergebracht werden mussten. Der im Mord an Green ermittelnde raubeinige Inspector McClusky und die Edel-Prostituierte Bessie Davis spielen zwar bei der Aufklärung des Kriminalfalles wichtige Rollen und tragen auch zum Gesellschaftsporträt von New York im ausgehenden 19. Jahrhundert bei (unter anderem erschließt sich, warum ein Elefant auf dem Buchcover zu sehen ist), nehmen aber doch etwas zu viel Raum ein und lassen den Roman zum Teil etwas unentschlossen und zusammengewürfelt wirken.

Trotzdem ist »Der große Fehler« ein lesenswertes Buch – vor allem, wenn man ein Faible für die Geschichte New Yorks und die Zeit um die vorletzte Jahrhundertwende hat.

Zu Gast bei Loriot


Am 12. November 2023 jährte sich der Geburtstag von Vicco von Bülow alias Loriot zum 100. Mal – Anlass genug für das Caricatura Museum in Frankfurt am Main, dem großen Humoristen unter dem Titel »Ach was! Loriot zum Hundertsten« eine umfangreiche Ausstellung zu widmen. Als langjähriger Fan, der von sich behauptet, ganze Passagen aus Sketchen und den beiden Filmen »Ödipussi« und »Pappa Ante Portas« fehlerfrei mitsprechen zu können, durfte ich mir das natürlich nicht entgehen lassen.

Die liebevoll aufgemachte Ausstellung erstreckt sich über alle vier Ebenen des schmucken Museums nahe des Doms und bietet einen umfassenden Überblick über Loriots gesamtes künstlerisches Schaffen. Fürs Bewegtbild wurde ein kleines Kino eingerichtet, zu den Highlights unter den sonstigen Exponaten gehören Drehbücher mit handschriftlichen Anmerkungen Loriots, Folien aus dem Sketch »Herren im Bad« und – besonders schön – das Spielzeug-Atomkraftwerk, mit dem Familie Hoppenstedt an Weihnachten so viel Freude hatte (»Puff!« hat es aber leider nicht gemacht).

Vieles, was es zu sehen gab, war mir natürlich schon hinlänglich bekannt (nicht dazu gehörten allerdings die Bühnenmodelle und andere Exponate von Loriots Opern-Inszenierungen), aber es war trotzdem eine große Freude, das alles gesammelt und gut kuratiert an einem Ort zu sehen. Und überhaupt hat das Wiedererkennen und Erinnern am meisten Spaß gemacht – offenbar nicht nur mir, sondern auch den anderen Besucherinnen und Besuchern. Selten habe ich in so kurzer Zeit so viele unterschiedliche Menschen Loriot-Zitate murmeln hören.

Wunderbar, dass Loriot auch heute noch jede Menge Menschen verschiedener Altersgruppen begeistert, wobei ich mit meinen 41 Jahren doch zu den jüngeren Personen im Museum gehörte. Apropos »jede Menge Menschen«: Obwohl ich an einem Dienstagnachmittag dort war, war es wirklich enorm voll in der Ausstellung. Manche Gänge des verwinkelten Museums waren teilweise kaum zugänglich – gelegentlich hätte ich mir etwas mehr Platz gewünscht, um alles mit ein wenig mehr Ruhe betrachten zu können.

Laut der Frau an der Museumskasse soll der Andrang in der Regel gegen 17 Uhr nachlassen – also lieber etwas später kommen. Die Ausstellung wurde bis zum 12. Mai verlängert, das Caricatura Museum (Weckmarkt 17) hat von Dienstag bis Sonntag jeweils von 11 bis 17 Uhr geöffnet.

Fundstücke {2}

Worüber empören Sie sich?
Über die Empörten. Nein, im Ernst. Ich empöre mich nicht, ich bin eher bekümmert, pessimistisch und ehrlich gesagt viel traurig.

Allerdings gibt es auch Anlass zur Freude, denn auf der Berlinale feiern dieser Tage gleich zwei Filme mit Birgit Minichmayr Premiere, unter anderem Josef Haders neue Regiearbeit »Andrea lässt sich scheiden« – schon den Trailer finde ich äußerst gelungen:

In den deutschen Kinos läuft »Andrea lässt sich scheiden« am 4. April an.

  • Vom 21. bis zum 24. März findet die diesjährige Leipziger Buchmesse statt. Unter dem Motto »Alles außer flach« sind diesmal die Niederlande und die Region Flandern gemeinsames Gastland. In ihrem Blog Zeichen & Zeiten richtet Constanze Matthes gemeinsam mit der niederländischen Buchhändlerin Julia van Weijen den Blick darauf, was die Literatur Flanderns und der Niederlande ausmacht, wie es um die dortige Literaturlandschaft bestellt ist und was es auf und neben der Messe alles zu entdecken gibt.

Tom Rachman: Aufstieg und Fall großer Mächte (2014)

Nachdem ich über den Jahreswechsel endlich Donna Tartts »Der Distelfink« gelesen habe, war es nun an der Zeit für das nächste Buch, das schon viel zu lange ungelesen im Regal herumstand. Aber letzten Endes gibt es für alles die passende Gelegenheit und oft ist es tatsächlich gewinnbringender, einen Roman mit etwas Abstand zu entdecken als nur den Neuerscheinungen hinterherzurennen.


Im Falle von »Aufstieg und Fall großer Mächte« (nach dem ebenfalls sehr empfehlenswerten »Die Unperfekten« der zweite Roman des Briten Tom Rachman) hat sich der zeitliche Abstand zur Erstveröffentlichung im Jahr 2014 durchaus gelohnt, denn das Buch ist nicht nur gut gealtert, sondern erweist sich bei einigen Entwicklungen, die uns in der Gegenwart beschäftigen, als beinahe hellsichtig. So werden etwa der Aufstieg Chinas und der durch die noch in den Kinderschuhen steckenden Sozialen Medien befeuerte Siegeszug des (Rechts-) Populismus in der US-Politik thematisiert. Putin wird am Rande erwähnt und bereits im um die Jahrtausendwende spielenden Handlungsstrang werkeln junge Computer-Nerds an einer »KB« (Künstliche Blödheit).

Aber um all das geht es eigentlich gar nicht. Dreh- und Angelpunkt der Geschichte ist das Leben von Matilda »Tooly« Zylberberg, einer Entwurzelten und immer etwas im Abseits Stehenden, die auf der Suche nach ihrem Platz auf dieser Welt ist. Zuerst begegnen wir ihr im Jahr 1988, als es sie – damals noch keine neun Jahre alt – mit ihrem alleinerziehenden Vater, einem an US-Botschaften in aller Welt tätigen IT-Experten, nach Bangkok verschlägt. Dort wird sie ohne Zwang (man ahnt schnell, warum sie mit der vermeintlich fremden Frau mitgeht und warum der Vater wenig Energie auf eine Suche verwendet) »entführt« und verbringt das nächste Jahrzehnt an der Seite der sprunghaften Sarah, des windigen Geschäftsmannes Venn und des kauzigen Exilrussen Humphrey Ostropoler (noch so ein hervorragender Name!) mal hier und mal dort. Auch 1999 treibt Tooly – jetzt in New York – eher ziel- und planlos durchs Leben. Sie teilt sich ein Apartment mit Humphrey, der Bücher, Schach und Tischtennis liebt, schleicht sich später aber unter einem Vorwand in eine Studenten-WG ein – womöglich im Auftrag Venns, der ein Geschäft wittert, vielleicht aber auch einfach, weil sie es kann.

Die Menschen behielten ihre Bücher, dachte Tooly, nicht, weil sie sie noch einmal lesen wollten, sondern weil die Bücher ihre Vergangenheit enthielten – die Struktur des eigenen Ichs an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit […].

Der dritte große Handlungsstrang spielt im Jahr 2011 in einem abgelegenen Dörfchen in Wales, wo Tooly, inzwischen Mitte Dreißig, ein Antiquariat mit dem sprechenden Namen »World’s End Books« betreibt. Ausgerechnet dort, mitten im Nichts, laufen die losen Fäden zusammen und alles bekommt auf einmal einen Sinn. Scheinbare Nebensächlichkeiten erweisen sich plötzlich als entscheidende Ereignisse und Figuren erscheinen in einem ganz anderen Licht. Und als Leserin oder Leser erkennt man erst auf den letzten der fast 500 eng bedruckten Seiten, wie hervorragend und klug »Aufstieg und Fall großer Mächte« konstruiert ist. Einige Passagen hätten für meinen Geschmack zwar gerne etwas weniger ausführlich ausfallen dürfen, aber dennoch kann ich diesen Roman nur wärmstens empfehlen. Eine große Geschichte über eine Welt im Wandel, die Suche nach einer Bestimmung und nach Menschen, die es gut mit einem meinen – und nicht zuletzt ein Lobgesang auf den Trost, der sich für alle Einsamen und Zweifelnden zwischen zwei Buchdeckeln finden lässt.

Mitte Juni erscheint mit »Die Hochstapler« übrigens ein neues Buch von Tom Rachman in deutscher Übersetzung – die Vorschau lässt ein weiteres erstklassiges Lesevergnügen erwarten.

Fundstücke {1}

  • »[…] ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.« – Dieses Kafka-Zitat haben wir alle vermutlich schon oft (wahrscheinlich sogar viel zu oft) gehört oder gelesen. Woher es aber stammt und in welchem Kontext es ursprünglich verwendet wurde, dürfte vielen nicht ganz so geläufig sein. Der Kaffeehaussitzer bringt Licht ins Dunkel.

  • Die Süddeutsche Zeitung (kostenpflichtiger Artikel) hat den Lesekreis der Zürcher James-Joyce-Stiftung besucht. Ein Durchgang »Ulysses« dauert dort zweieinhalb bis vier Jahre, der Lesezyklus für »Finnegan’s Wake« nimmt ganze elf Jahre in Anspruch. Für meinen Geschmack ein wenig zu lang und James Joyce muss es auch nicht unbedingt sein, aber ich glaube, ich hätte Freude daran, mich über einen längeren Zeitraum in ein literarisches Werk hineinzufuchsen und mich mit anderen darüber auszutauschen.

  • Bisher komplett an mir vorbeigegangen ist der Umstand, dass es das »Literarische Quartett« bei Deutschlandfunk Kultur als Audiospur gibt – das gefällt mir viel besser als die Fernsehversion (wer braucht schon Bewegtbild, wenn eh nur geredet wird?). In der aktuellen Folge geht es um neue Romane von Haruki Murakami, Bodo Kirchhoff und Nathan Hill sowie die erstmals in deutscher Übersetzung vorliegenden Erzählungen der bereits 1966 tödlich verunglückten Diane Oliver.

  • Apropos Fernsehen: Zwischen 1966 und 1987 war auf Island gesetzlich geregelt, dass am Donnerstag kein Fernsehprogramm ausgestrahlt wird. Die Menschen sollten sich wenigstens an einem Tag in der Woche treffen und miteinander reden. Vielleicht wäre es ganz sinnvoll, so etwas in der Art wieder einzuführen – nicht unbedingt gesetzlich verordnet, sondern auf freiwilliger Basis. Ein, zwei Tage in der Woche ohne Fernsehen/Streaming (oder noch besser: ohne Social Media) schaden sicher nicht.

  • Zum Abschluss noch ein Buchtipp: Die NZZ empfiehlt Florence Hazrats Sachbuch »Das Ausrufezeichen. Eine rebellische Geschichte«. Das ist umgehend auf meine Leseliste gewandert.