Tom Rachman: Aufstieg und Fall großer Mächte (2014)

Nachdem ich über den Jahreswechsel endlich Donna Tartts »Der Distelfink« gelesen habe, war es nun an der Zeit für das nächste Buch, das schon viel zu lange ungelesen im Regal herumstand. Aber letzten Endes gibt es für alles die passende Gelegenheit und oft ist es tatsächlich gewinnbringender, einen Roman mit etwas Abstand zu entdecken als nur den Neuerscheinungen hinterherzurennen.


Im Falle von »Aufstieg und Fall großer Mächte« (nach dem ebenfalls sehr empfehlenswerten »Die Unperfekten« der zweite Roman des Briten Tom Rachman) hat sich der zeitliche Abstand zur Erstveröffentlichung im Jahr 2014 durchaus gelohnt, denn das Buch ist nicht nur gut gealtert, sondern erweist sich bei einigen Entwicklungen, die uns in der Gegenwart beschäftigen, als beinahe hellsichtig. So werden etwa der Aufstieg Chinas und der durch die noch in den Kinderschuhen steckenden Sozialen Medien befeuerte Siegeszug des (Rechts-) Populismus in der US-Politik thematisiert. Putin wird am Rande erwähnt und bereits im um die Jahrtausendwende spielenden Handlungsstrang werkeln junge Computer-Nerds an einer »KB« (Künstliche Blödheit).

Aber um all das geht es eigentlich gar nicht. Dreh- und Angelpunkt der Geschichte ist das Leben von Matilda »Tooly« Zylberberg, einer Entwurzelten und immer etwas im Abseits Stehenden, die auf der Suche nach ihrem Platz auf dieser Welt ist. Zuerst begegnen wir ihr im Jahr 1988, als es sie – damals noch keine neun Jahre alt – mit ihrem alleinerziehenden Vater, einem an US-Botschaften in aller Welt tätigen IT-Experten, nach Bangkok verschlägt. Dort wird sie ohne Zwang (man ahnt schnell, warum sie mit der vermeintlich fremden Frau mitgeht und warum der Vater wenig Energie auf eine Suche verwendet) »entführt« und verbringt das nächste Jahrzehnt an der Seite der sprunghaften Sarah, des windigen Geschäftsmannes Venn und des kauzigen Exilrussen Humphrey Ostropoler (noch so ein hervorragender Name!) mal hier und mal dort. Auch 1999 treibt Tooly – jetzt in New York – eher ziel- und planlos durchs Leben. Sie teilt sich ein Apartment mit Humphrey, der Bücher, Schach und Tischtennis liebt, schleicht sich später aber unter einem Vorwand in eine Studenten-WG ein – womöglich im Auftrag Venns, der ein Geschäft wittert, vielleicht aber auch einfach, weil sie es kann.

Die Menschen behielten ihre Bücher, dachte Tooly, nicht, weil sie sie noch einmal lesen wollten, sondern weil die Bücher ihre Vergangenheit enthielten – die Struktur des eigenen Ichs an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit […].

Der dritte große Handlungsstrang spielt im Jahr 2011 in einem abgelegenen Dörfchen in Wales, wo Tooly, inzwischen Mitte Dreißig, ein Antiquariat mit dem sprechenden Namen »World’s End Books« betreibt. Ausgerechnet dort, mitten im Nichts, laufen die losen Fäden zusammen und alles bekommt auf einmal einen Sinn. Scheinbare Nebensächlichkeiten erweisen sich plötzlich als entscheidende Ereignisse und Figuren erscheinen in einem ganz anderen Licht. Und als Leserin oder Leser erkennt man erst auf den letzten der fast 500 eng bedruckten Seiten, wie hervorragend und klug »Aufstieg und Fall großer Mächte« konstruiert ist. Einige Passagen hätten für meinen Geschmack zwar gerne etwas weniger ausführlich ausfallen dürfen, aber dennoch kann ich diesen Roman nur wärmstens empfehlen. Eine große Geschichte über eine Welt im Wandel, die Suche nach einer Bestimmung und nach Menschen, die es gut mit einem meinen – und nicht zuletzt ein Lobgesang auf den Trost, der sich für alle Einsamen und Zweifelnden zwischen zwei Buchdeckeln finden lässt.

Mitte Juni erscheint mit »Die Hochstapler« übrigens ein neues Buch von Tom Rachman in deutscher Übersetzung – die Vorschau lässt ein weiteres erstklassiges Lesevergnügen erwarten.

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