Wie aus dem kleinen Paul der große Paul Maar wurde

Hintergrundfoto von mir, Coverbild © S. Fischer

Mit seinen zahllosen Kinder- und Jugendbüchern, vor allem aber natürlich mit den Geschichten vom „Sams“, hat Paul Maar Generationen junger Menschen in ein Leben als Leser*in begleitet. Wer den in Bamberg lebenden Schriftsteller außerdem auf einer seiner Lesungen erlebt hat, weiß, dass er nicht nur ein findiger Erzähler, sondern auch ein äußerst feiner Mensch ist. Einer, über den man gerne mehr wissen möchte. In seinen Kindheitserinnerungen erzählt Paul Maar nun „Wie alles kam“ — der Untertitel „Roman meiner Kindheit“ rührt in erster Linie daher, dass es schier unmöglich ist, sich nach vielen Jahrzehnten noch detailliert an Dialoge oder Ereignisse aus der frühen Kindheit zu erinnern.

Schön wäre es, wenn sich Erinnerungen wie an einer Perlenschnur von der frühesten Kindheit bis in die Jetztzeit aneinanderreihen würden. Oder, um ein anderes Bild zu gebrauchen, wenn aus einem schmalen Bach, gespeist durch immer neue Lebensmomente, ein Fluss würde, der sich zuletzt als breiter Erinnerungsstrom ins Heute ergießt. So ist es aber nicht. […]
Eher sind es verstreute große und kleine Pfützen nach einem Starkregen. Schafft man es, mit einem Stock eine Furche zu einer benachbarten Pfütze in die feuchte Erde zu ziehen, verbindet sich der Inhalt der einen mit der anderen zu einer starken Erinnerung.

Paul Maar

Gefragt, wie man ein guter Autor wird, antwortete Paul Maar einst: „Durch eine sehr unglückliche oder eine sehr glückliche Kindheit.“
Leider ist bei ihm Ersteres der Fall. Die Mutter stirbt bereits wenige Wochen nach der Geburt des kleinen Paul im Dezember 1937, knapp drei Jahre später heiratet der Vater wieder und wird kurz darauf zur Wehrmacht eingezogen. Aus Angst vor der Bombardierung Schweinfurts — immerhin ein wichtiger Industriestandort — flieht Paul in den späteren Kriegsjahren mit seiner Stiefmutter zu deren Eltern ins unterfränkische 300-Seelen-Dörfchen Obertheres. Dort entwickelt sich fast so etwas wie eine unbeschwerte Kindheit — der Krieg ist weit weg, außerdem findet der Junge im Nachbarsbuben Lud einen treuen Freund für gemeinsame Lausbubenstreiche.

Als Paul allerdings neun Jahre alt ist, ändert sich das Leben schlagartig, als ein ihm unbekannter Mann vor der Tür steht, der sich als der aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrte Vater herausstellt. Allerdings nicht als der liebenswerte, fröhliche Papa aus den frühen Kindheitstagen, sondern als verbitterter, strenger und mitunter handgreiflicher Patriarch, der nichts mehr fürchtet als die Verweichlichung des Sohnes. Er drängt auf die Rückkehr nach Schweinfurt, wo er einen Malerbetrieb eröffnen möchte. Paul wird von jetzt auf gleich aus seinem beschaulichen Umfeld in Obertheres herausgerissen und findet sich bald in einer ihm scheinbar feindlich gesinnten Umgebung wieder. Eine eher lieblose Familie, Probleme in der Schule und die falschen Freunde machen dem sensiblen Jungen das Leben schwer.

Die „Rettung“ naht erst, als Paul ein Schuljahr wiederholen muss und in einer neuen Klasse mit vielen gleichgesinnten, ebenso kunstbegeisterten Jungen landet. Und dann ist da natürlich noch Nele, das einzige Mädchen seines Jahrgangs und Tochter zweier Theaterintendanten, die bald seine Freundin wird und ihm eine ganz neue Welt eröffnet. Auf einmal scheint der Lebenslauf nicht mehr vorgezeichnet zu sein: Statt eines Tages das Geschäft des Vaters zu übernehmen, tun sich dem jungen Paul nun ungeahnte Möglichkeiten auf. Bestärkt wird er zudem — das ist eine hübsche Episode am Rande — von einem warmherzigen, aber verzagten Büroangestellten im väterlichen Betrieb, dem Paul Maar später in der Figur des Herrn Taschenbier ein Denkmal setzt.

Mit Nele, der Jugendfreundin und späteren Psychotherapeutin und Schriftstellerkollegin, ist Paul Maar bis heute verheiratet. Die Passagen im Buch, in denen er voll Liebe und Dankbarkeit von seiner inzwischen schwer an Alzheimer erkrankten Frau erzählt, sind rührende Momente, die noch lange in Erinnerung bleiben.

Überhaupt gelingt Paul Maar in diesem zauberhaften Buch ein Kunststück, an dem viele Memoiren-Schreiber krachend scheitern: Er schreibt zwar über sich, verliert dabei aber nie diejenigen aus den Augen, die ihn auf seinem Weg geprägt haben. Sogar für den oft so hartherzigen Vater findet er am Ende von „Wie alles kam“ noch versöhnliche Worte.

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